Startseite: Textenetz von Ulrich Karger


Textenetz | Kommentar: Botschaften wechseln


Kommentar von Ulrich Karger zu professionellen Boten und nicht nur deren Mut zur Verantwortung.

Erstveröffentlichung: Religion heute 18 / Juni 1994



Postboten, Historiker, Soldaten, Kabarettisten, Rundfunkredakteure und Pfarrer - sie alle sind Teil oder/und Überbringer von Botschaften (wobei die weiblichen Angehörigen dieser Berufstände natürlich nicht ausgenommen sind).
Aber sind diese (und andere) professionellen Boten auch gleichermaßen verantwortlich für den Inhalt ihrer Botschaften? Und wenn ja - welche Folgen kann ihnen für das Übermitteln "schlechter Nachrichten" abgefordert werden? Nach Despotenart sie kurzerhand hinzurichten, ist wohl nicht mehr zeitgemäß. (Die Wachträume einiger von entprechenden Medien überführter Politiker nicht mitgezählt ...)
Zunächst: Ja, ich glaube, daß jeder Bote Verantwortung für seine Botschaft und deshalb auch ein Risiko für ihre Folgen trägt.
Jesus, der für uns Christen Bote und "Frohe Botschaft" in Personalunion ist, unterlag diesem Mechanismus am Kreuz, um dann von den Toten aufzuerstehen. Für so manch anderen Boten ist diese "Auferstehung" allerdings nur ein schwacher Trost, wenn sie denn überhaupt noch irgendeine Relevanz für ihn hat. Wer will auf Erden schon gerne Verlierer sein, und wenn schon kein Sieger, dann nicht wenigstens in Ruhe gelassen werden?
Das Leben ist so kurz, deshalb nach mir die Sintflut - zu dieser Haltung neigen offensichtlich auch immer mehr Eltern, denen das Schicksal ihrer Kinder und Kindeskinder letztlich gleichgültig zu sein scheint. Nein, nein, sie würden natürlich nie bewußt ihren Kindern etwas antun wollen, aber angesichts einer uns immer konfuser erscheinenden Wirklichkeit neigen immer mehr dazu, den Kopf nur noch in den Sand stecken zu wollen, um in Ruhe gelassen zu werden und ... "unschuldig" zu bleiben. Jedoch diese Unschuld hat nichts mit der Unschuld der Kinder zu tun, sondern ist nur eine euphemistische Umschreibung für Dummheit und Ignoranz. Und selbst wer als vorgeblich mündiger Bürger trotz 24-Stunden-lang abrufbarer Nachrichten tatsächlich ahnungslos und deshalb kindlich unschuldig sein sollte, den treffen die Folgen der jeweiligen Boten mit derselben Wucht wie ihre Kinder. Weder Unschuld noch Dummheit schützen vor "Strafe" ...
Und es scheinen immer mehr auf die Langmut Gottes zu vertrauen, ohne von der Enttäuschung Jonas über die Errettung Ninives zu wissen.
Angesichts der Widerstehenden in heute (1994!) noch existierenden Diktaturen oder unseres auferstandenen Christus ist in diesem, unserem Land die Schwelle zum couragierten Handeln sehr niedrig angesetzt. Aber wie wenige sind es, die z.B. als Postbote das Austragen von offensichtlich rechtsextremistischem Propagandamaterial verweigern oder sich als Redakteur einer Zeitung gegen das Abdrucken eines Wahlaufrufs der Verursacher dieses Gedankenmülls aussprechen. Ihnen drohen - ganz rechts-staatlich bzw. marktwirtschaftlich - dienstrechtliche Abmahnungen und evtl. sogar die Kündigung. Wer Arbeit und demzufolge einen "gewissen Standard" hat, dem gerinnt ob dieser Drohung das Blut. Die Empfindungen reichen nur noch ins kurzfristige Morgen. An das Übermorgen will keiner denken, höchstens nach dem Motto: "wird schon irgendwie weitergehen ...".
Dann allerdings "irgendwie" nicht nur ohne Arbeit, sondern auch ohne das Recht auf freie Meinungsäußerung und zuletzt auch noch ohne die Luft zum Atmen. Wenn es heißt, daß sich die Geschichte nicht wiederholen kann, heißt das ja nicht, daß es dank der immer effektiver nutzbaren Technik nicht noch um einiges schlimmer kommen könnte. Die Plattformen dafür werden bereits getrampelt.
So darf ein sogenannter Historiker namens Nolte schon wieder seinen heillosen "Relationalismus" vertreten, wonach das, was den Juden und anderen Opfern des NS-Regimes angetan wurde, doch ähnlich, wenngleich in anderen Dimensionen und vielleicht etwas weniger irrational auch andere Völker anderen Minderheiten angetan hätten. Und vielleicht sind die Juden überhaupt selber an ihrer Vernichtung schuld ...
Es galt lange Zeit als verpönt, moralisierend oder gar moralinsauer auf Mißstände hinzuweisen. Leider ist aber zu vermuten, daß die elegante Umschreibung nicht mehr ausreicht und jede und jeder sich entscheiden muß.
Ein "Das finde ich aber jetzt irgendwie echt nicht gut, daß du mich so in die Enge treibst" wird zu verkraften sein, denn die Gegnerschaft besteht nicht in der unterschiedlichen Meinung, sondern im Bilden von Meinung oder dem Verharren in halsbrecherischer Gedankenlosigkeit.
So gibt Jesus die Frage des "Gesetzeskundigen" nach dem wichtigsten Gebot in Lk 10,25 einfach zurück und läßt sie diesen selbst beantworten, weil er sie doch auch selbst beantworten kann.
Mit dem Wissen vom Gebot zur Liebe Gottes, des Nächsten und meiner selbst weiß ich auch von einer daraus abzuleitenden Moral. Wie sie abgeleitet wird (z.B. mit Hilfe der Antworten Jesu), muß jede/r für sich selbst entdecken. Sie impliziert jedenfalls auch das Unbequeme, nämlich die Fähigkeit zum Bewußtsein und -werden von dem, was Gott, dem Nächsten und mir selbst zuwider sein sollte.
Aber ganz egal, was es nun ausgelöst hat, die "Wende", AIDS oder der Stand der Sterne - in vielen Bereichen halten wir bestenfalls nur noch das "Niveau" der frühen 50iger. Keiner hat was gewußt und will etwas wissen.
Doch nur wenn viele, möglichst alle hinschauen und wissen wollen, können wir endlich aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Das eine Jahrhundert der Aufklärung hat längst nicht gereicht, und auch die Errungenschaften der APO-Bewegungen sind keine lagerfähigen Besitzstände, sondern bedürfen der steten Neu-Sicht und zeitgemäßen Interpretation.
Die Verdienste der krustenbrechenden Säkularisation drohen zu nicht mehr haltbaren Verlusten zu werden, wenn nicht endlich unter neuen Vorzeichen, d.h. auf Grundlage bisheriger Erkenntnisse wieder allgemein die konstruktive Frage nach der Mitte menschlichen Lebens gestellt wird, um ein Gewissen oder meinetwegen ein lebensfreundliches "Über-Ich" zuzulassen. Nicht umsonst werden die Politiker bei den gegenwärtigen und künftigen Wahlen immer wieder nach "Visionen" gefragt. Die haben sie aber nicht, sie haben lediglich ein bestimmtes Wahlklientel zu befriedigen.
Aber an wen könnte man sich mit dieser Frage dann wenden? An die Kirchen? Der sicherlich nicht mit dem Attribut "forsch" zu versehende Berliner Alt-Bischhof Kruse betonte auf seiner Abschiedsrede vor den Synodalen Berlins doch weiterhin den Erhalt der Volkskirche zu betreiben, "denn die Erwartung richtet sich nicht an eine Kirche die herrscht, wohl aber an eine, die dem Ganzen dient, der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit".
Wie kolportiert und auch bereits einigen Interviews zu entnehmen, ist das aber nicht die Sache seines Nachfolgers Wolfgang Huber. Der will vielmehr den zahlenmäßig überlegen vertretenen Brandenburgern und Ostberlinern Rechnung tragen und den Rückzug in die Nische einer geschützten Minderheit "von mit Autorität geführten Entschiedenen" antreten. Dabei wäre dann im Übrigen auch gleich auf den Religionsunterricht in Schulen zu verzichten ...
Wie gerne wäre ich hierbei einer Fehlinformation aufgesessen und müßte mich gegebenenfalls für meinen Irrtum entschuldigen!
Bleibt die Frage: Weiter am Kreuz hängenbleiben oder von den Toten auferstehen?

Ulrich Karger




ulrich-karger.de/textenetz/ © Ulrich Karger seit 2002