Nachdenken heißt, etwas im Nachhinein zu bedenken, das zuvor geschehen ist, es in einen Zusammenhang mit der Gegenwart zu bringen, es auf seine Zukunftsfähigkeit hin zu überprüfen, sich z.B. im Frühling an den vergangenen Herbst zu erinnern ...
Im vergangenen Herbst ist einer gestorben, vor dessen Sarg sich alle geradezu danach drängten, einander die Hände zu reichen. Willy Brandt hatte es allein schon wegen seines Kniefalls in Warschau nicht verdient, von seinen KollegInnen mißbraucht zu werden. Seine Großtaten und Fehler wurden vor allem dadurch so sinnfällig, als sie sich an Brandts Motiv erhellten, "mehr Demokratie wagen" zu wollen. Und gerade im letzten Herbst, vor und nach der Beerdigung Brandts, gaben die regierenden und regierenwollenden Fraktionen immer mehr den Stammtischformeln achsobedrängter deutschstämmiger Bürger nach. Sie bildeten flugs die große Koalition des Mißbrauchs eines Asylgesetzes, das unserem Nachkriegs-Deutschland als eines der wenigen Schönheitspflästerchen gut zu Gesicht gestanden hatte.
Günter Grass kündigte der SPD seine Mitgliedschaft auf, und wir anderen stellten Lichtlein ins Fenster oder hielten sie zu hunderttausenden in den Händen. Wieviele von den Kerzenhaltern dasselbe wie Günter Grass beleuchten wollten, blieb jedoch im Dunkeln.
Und wenn ich über "meine" Kirche nachdenke, wie sie von den Amts- und Würdenträgern (insbesondere von gewissen Konsistorialpräsidenten a.D.) in der Öffentlichkeit repräsentiert wird, was kann ich da einem, der seinen Austritt nicht nur der Steuerersparnis wegen in Erwägung zieht, vor Augen halten, damit er es sich noch einmal anders überlegt?
Sind nicht die, die meine Kirche repräsentieren, so wirklich, d.h. so wenig utopisch wie die seßhaften Organe unseres Parlamentarismus?
Aber natürlich! Die kirchlichen Repräsentanten sind, wie die Abgeordneten, ein Spiegelbild unserer Bequemlichkeit, von dem wir irrwitzigerweise erwarten, es sei besser, als das Gespiegelte.
Und da will ich über etwas nachdenken, was es noch gar nicht gibt, was deshalb von den wirklichkeitsnahen Zeitgenossen als Hirngespinst abgetan wird - denn wer hätte je von einer wirklichgewordenen Utopie gehört?!
Mehr Kirche wagen ... - ganz abgesehen vom schlechten Deutsch, das ist doch einfach lächerlich! Oder?
Man kann doch nicht ... - ich finde, man könnte zumindest!
Die evangelische Kirche ist demokratisch gegliedert - selbst eine so festverschweißte Verwaltungseinheit, wie es ein evangelisches Konsistorium mitunter sein kann, ließe sich von der einfachen Mehrheit einer Synode "knacken".
Mann und Frau stelle sich das einmal vor, wie das auf der kleinsten Ebene kirchenpolitischer Mitbestimmung aussehen könnte. Die SynodalInnen sind ja nichts anderes als die Delegierten der basisnächsten Gemeindekirchenratsversammlungen.
Einem solchen Gemeindekirchenrat gehörten naturgemäß die beamteten PfarrerInnen und, sagen wir einmal, 12 gewählte Laien an.
Im Rückblick auf eine mögliche Vergangenheit wären diese Laien jedoch nicht von einer verschwindenden Minderheit unter 5%, sondern ähnlich wie bei den Kommunalwahlen, von ca. 60 - 80% der gesamten Gemeinde gewählt worden. Damit sich aber 60 - 80% für so eine Wahl alle drei Jahre mobilisieren ließen, mußten die zur Wahl aufgestellten, neben ihren sozialen Interessen auch ihre grundsätzliche Haltung zur Auslegung der Tischgemeinschaft Jesu vorstellen. Da gab es dann z.B. einen, der sich dem wortwörtlichen Wort verschrieben und sich der Partei der Evangelikalen zugeordnet hat, eine andere, die sich der feministisch-ökologischen Fraktion zugehörig fühlte und ihre Stimme auch für mehr Bischhöfinnen erheben wollte und einen dritten, der mit der Bibel vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen den anderen Weltreligionen und natürlich zwischen den christlichen Konfessionen zu belegen können glaubte. Eine vierte setzte auf den Beibehalt der Kirchensteuer, ein fünfter war dagegen, eine sechste wollte geheiligte Kirchenräume nicht nur für den Gottesdienst nutzen, ein siebter wollte die Kirche auf die wahrhaft Gläubigen "gesundschrumpfen", eine achte die Anpassung der Kirche an die Notwendigkeiten der gegebenen Realitäten, die neunte wollte Kirchengelder sparen, der zehnte wollte es für diakonische Werke ausgeben, die elfte wollte einen Austausch mit Kunstschaffenden pflegen, der zwölfte Anstöße für einen Religionsunterricht befördern, der alle SchülerInnen integrieren soll.
Das Spannendste an dieser Vorstellung, das kaum Vorstellbare an ihr, sind die Konferenzen dieser MandatsträgerInnen und wie sie gemeinsam eine Streitkultur entwickelt haben, die den billigen Schlagabtausch von Politikern weit überträfe. Sie alle wüßten von ihrer Unterschiedlichkeit, von der Berechtigung dieses Zustandes und dem daraus resultierenden Respekt gegenüber den anderen und seiner eigenen Vorstellungen. Sie alle gemeinsam nutzten die Not des sinkenden Kirchenschiffs nicht für kurzfristig wirkende taktische Vorteile, sondern um Grenzen zu überwinden.
So wurde der Evangelikale nicht der bornierten Naivität beschuldigt und die Feministisch-ökologisch-bewußte nicht der Blasphemie ... Sie waren wie kleine Kinder, die erwartungsvoll andere Kinder im Sandkasten treffen und meist sofort, trotz aller Unterschiedlichkeit ihrer Herkunft, eine Sprach- und Spielebene finden - Verletzungen sind dabei nicht ausgeschlossen, dennoch freuen sich die Kinder jedesmal aufs Neue, wenn's zum Spielplatz geht.
Als sie gewählt wurden, war den 12en klar, daß sie innerhalb einer Gemeinde zur Umsetzung ihrer Ziele natürlich nur beschränkte Möglichkeiten hatten. Aber aus ihrer Streitkultur geübten Mitte kämen ja die Delegierten für das nächsthöhere Gremium, und vielleicht entschied das ja schon demnächst, für eine bestimmte Frage einen Kirchenvolksentscheid herbeiführen zu wollen - auch gegen die alerte Selbstsicherheit der Konsistorien und ihrer Räte!
Das statische Zeitgefüge kirchlicher Regelwerke, lediglich in bürokratischer Hinsicht und im Sinne materieller Besitzstandswahrung und -mehrung dem Heute verpflichtet, käme in Bewegung, die Kirche würde vom Hinterher- und Mitläufer vorgeblicher staatlicher Interessen gar zur "anstößigen" Institution, weil sie sich nach Aberjahrhunderten endlich dem Eigentlichen widmete - nichts anderes hatte Jesus gefordert, als er auf eine bürokratische Frage mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortete.
Wem können wir, wem soll die Kirche Nächster sein? Und warum wohl nahm Jesus einen außerhalb der Gemeinschaft stehenden Samariter zum positiven Beispiel?
Heißt das auf unsere Zeitläufte übersetzt nicht auch, daß die Frage nach Bescheinigungen dieser oder jener Glaubensvorstellungen oder gar das Fehlen sämtlicher Bescheinigungen längst keine Frage mehr sein darf? Ist nicht dieser besserwisserische Impetus christlich-westlichen Zivilisationsgebahrens genau die Schlinge, an der wir alle (wegen der westlichen Übermacht) jämmerlich ersticken werden?
Was heißt denn Toleranz auf den Glauben bezogen, innerchristlich in der Ökumene und darüberhinaus im Austausch mit den anderen Religionen und Lebensausrichtungen? Etwa nach wie vor von dem (immerhin?) nur noch diskret erhöhten Sockel aus geduldig zu warten, bis die anderen zu meiner Überzeugung gelangen?
Aber - wird vielleicht entgegnet - du hast doch nur ein paar Zeilen vorher z.B. auch den Evangelikalen einen Platz in deiner kirchlich-pluralen Utopie eingeräumt.
Das ist für mich kein Widerspruch, denn ich will nicht davon ausgehen, daß alle Evangelikalen borniert und selbstgerecht bzw. schlicht und ergreifend dumm sind.
Genauso wenig wie es für mich ein Widerspruch ist, sich selbst und seinen geistigen Umkreis zu pflegen und zu lieben, um eben von daher auch eine Plattform zu haben, von der ich auf andere zugehen oder sie zu Besuch einladen kann - einen Gast würde ja wohl keiner in seinem Haus gefangensetzen wollen, oder?
Daß diese Art der Gastfreundschaft möglich ist, konnte ich in einem sehr instruktiven Sammelband interreligiöser Auseinandersetzungen nachlesen (s. Rezension), wonach die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit tatsächlich weltweit gleich sind, d.h. nicht nur bei den Christen, sondern auch bei den Juden, Moslems, Hindus, Buddhisten usw. gibt es in der Wahrnehmung des Lebens beschränkte, weniger beschränkte und sehr offene Menschen. Und vermutlich ist die geistige Verwandtschaft zwischen einem beschränkten Christen und einem beschränkten Hindu größer, als die zwischen einem beschränkten und einem offenen Christen.
Meine Interpretation von Pluralismus und Toleranz zieht die Grenze also nicht vor den unterschiedlichen Glaubensausrichtungen, sondern vor dem Fehlen des gegenseitigen Respektierenwollens, das bei einigen unserer Mitmenschen (auch Mitchristen!) zur Verachtung und sogar zum Verletzen und Töten anderer Menschen führen kann oder zumindest billigend in Kauf genommen wird. Diese Haltung und alles, was zu dieser Haltung führen kann - nicht nur die vielen Flüchtlinge, sondern z.B. die fehlenden Wohnungen, die fehlende, sinnvolle Arbeit etc. - muß vorgeführt und bekämpft werden. Natürlich immer unter der Prämisse, in den Mitteln des Kampfes nicht genauso brachial und beschränkt zu sein, wie die Vertreter der zu bekämpfenden Haltung.
Allerdings auch nicht so verschleiernd sanft, wie sich die Kirchen in der jüngsten Zeit angesichts ihrer Verstrickung mit der Stasi winden.
Statt die einzelnen schwarzen Schafe zu entlarven, um sie dann doch je nach Lobby angesichts der schweren Zeiten zu "ent-schuldigen", sollte die Kirche endlich ihre Strukturen hinterfragen. Das Gewissen des Einzelnen schlägt ihm oder auch nicht. Aber was heißt z.B. eigentlich ein "Konsistorialpräsident" sein zu können oder zu müssen? Was wird von so einem Titelträger "eigentlich" verlangt, und hat das wirklich und wahrhaftig noch etwas mit dem Eigentlichen unseres Glaubens zu tun?
Fragen über Fragen!
Aber keine Angst: Das sind alles nur Sandkastenplanspiele! Wir lassen uns da nichts vormachen und bleiben wie wir sind: Ängstlich, kleinlich, rechthaberisch und nicht aus unseren gemütlich gepolsterten Schubladen zu bewegen.
Die eine pluralistische Kirchengemeinschaft, deren tischgemeinschaftliches Verhalten ein konkretes Vorbild für den Staat sein könnte - das ist doch nun wirklich lächerlich, oder?
Die Utopie, nicht erwachsen, sondern trotz der verlorenen Unschuld wieder wie die Kinder zu werden, läßt sich vielleicht von der Kanzel herablesen und im gereimten Gebet gedankenlos nachplappern, aber eben nicht wirklich nachdenken und noch weniger nachvollziehen.
Außerdem: Eine Vierteljahresschrift wie RELIGION HEUTE hat nun einmal lange Vorlaufzeiten für die Drucklegung, und so habe ich diesen Text in Wirklichkeit ja auch gar nicht im Frühling, sondern im Herbst des vergangenen Jahres begonnen. Ja, dann ...