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Textenetz | Nachruf auf Ingeborg Drewitz (1923 - 1986)


Ein Nachruf von Ulrich Karger zum 1. Todestag von Ingeborg Drewitz.

Erstveröffentlichung:
Die Tageszeitung (taz) 26.11.1987
Frankfurter Hefte Nr. 12/1987

In der Büchernachlese besprochene Titel von Ingeborg Drewitz:
  • Eingeschlossen



  • "Also, ich bin gegen diesen Zwang, bestimmten Ereignissen oder Personen an auswendig zu lernenden Geschichtsdaten zu gedenken" oder "Na, wegen der Ingeborg Drewitz wird doch eh 'ne ganze Menge gemacht" oder, oder, oder ...
    Das mag ja alles richtig sein, und ich bin vielleicht ein datenfixierter Neurotiker, wenn ich mich gerade z.Zt. ihres Todestages hinsetze und aufschreiben will, was mir diese Frau so be-denkenswert macht.
    Noch vor drei, vier Jahren war Ingeborg Drewitz für mich nicht mehr als einer dieser Namen aus der Literaturszene, von dem man schon öfter gehört, aber nichts gelesen hat. Mitbegründerin des VS (Verband deutscher Schriftsteller), Vizepräsidentin des deutschen PEN-Zentrums und ... Patin eines instandbesetzten Hauses. Na, ja - vielleicht auch nur eine gut genutzte Möglichkeit, die "publicity" auf sich zu lenken, um dem Verleger den Verkauf ihrer Bücher zu erleichtern.
    Dann erzählte eine Bekannte immer wieder von einem Buch, das sie "wahnsinnig toll" fand, und "das solltest du echt mal lesen", und "gerade deine Wohngegend, Moabit, wird da auch beschrieben, so wie's früher war und so ..."
    Ein, zwei Tage lang lag das Buch im Regal, bis ich es zu lesen anfing und jede Unterbrechung, wie zur Arbeit gehen, essen, trinken, schlafen, als reine Zumutung empfand. Zwischendurch mußte ich mich immer wieder vergewissern, daß das eine Mittfünfzigerin geschrieben hatte, weil ich kaum noch glauben konnte, daß aus der Generation so viel Frische im Gedächtnis vorhanden ist.
    Der Roman GESTERN WAR HEUTE machte mir deutlich, daß so abgenutzte Bewertungen wie "authentisch" und "packend" tatsächlich "stimmig" sein können. Die Frau hatte hingeschaut, gerochen und gespürt, wo andere nur noch von der Gnade der späten Geburt faselten. Die brauchte keinen erhobenen Zeigefinger und den Persilschein mit dem Aufdruck: Ich war ja so anders ..., weil sie sich nicht vor der Verantwortung drücken und die Vergangenheit überwältigen, pardon, bewältigen konnte oder wollte.
    Als einer, der anfing, selber gerne mal etwas Lesenswertes unter die Leute bringen zu wollen, fragte ich mich: Wie schafft die das bloß - einen sehr gut zu unterhalten, ohne auch nur einen billigen Effekt einzusetzen? "Irgendwie" ist das nicht möglich.
    Ingeborg Drewitz schrieb nur über das, worüber sie Bescheid wußte. Aber kein Selbsterlebtes reichte für so ein umfangreiches Werk, das sich mir nun nach und nach erschloß.
    Bei der Biographie von Bettine von Arnim wird es offenkundig: Quellenstudium, Recherche ... Knochenarbeit, aber so umgesetzt, als drückt mensch auf den Schalter, es wird Licht und keiner sieht und denkt noch an die mühevoll unter Putz gebrachten Stromkabel. Mit den Attributen "genau" und "penibel im Detail" werben auch die Erläuterungen auf den Schutzumschlägen.
    Wie auch immer - nach der Lektüre wußte ich, daß ich hier etwas lernen konnte. Außerdem wohnte sie ja auch in Berlin und das Porto für das Manuskriptbündel fiel etwas billiger aus. Ein anderer "Promi" hat hier z.Zt. auch einen Koffer stehen, aber bei dem käme ich bis heute nicht auf die Idee, seine Zeit auch nur mit dem Lesen meines Absenders zu verschwenden, auch wenn mir sein Werk mehr als lehrreich erscheint. Ein Widerspruch in sich? Eher eine Reaktion auf das Was und Wie des jeweils Geschriebenen - und von Ingeborg Drewitz wurde ich nicht enttäuscht und bekam tatsächlich eine Antwort.
    "Seltsam, ich habe alles ein paar Mal gelesen, aber ...", insgesamt ein ganzseitig getippter Brief, der an meine Arbeiten Fragen stellt, denen ich bis dahin ausgewichen war, und mir an einzelnen Kapiteln belegte, wo ich schon auf dem richtigen Weg bin.
    Das war knapp ein halbes Jahr vor ihrem Tod.
    Es folgten zwei weitere Briefe, in denen Ingeborg Drewitz sich mit mir, dem halb so alten "jungen, unbekannten" Autoren weiterhin auseinandersetzte. Da ging es dann auch um Grundsätzliches, z.B. den Sinn bzw. die Wirksamkeit des Schreibens.
    "Niemand schreibt aus sozialem Engagement, denn dann sollte er Pädagoge oder Sozialarbeiter werden, weil da mehr zu bewirken ist. Aber jeder, auch ich, schreibt, weil es Erfahrungen wegzuarbeiten gibt, (...) und aus dem unbedingten Drang, diese Erfahrungen zu gestalten (also auch Spiellust, denn Spielen ist ja Gestalten / oder umgekehrt)."
    Oder um ihren Roman EINGESCHLOSSEN, der sich als ihr letzter in besonderer Weise von den früheren Romanen abhebt. Auch in diesem hält sie Rückschau, reflektiert die Gegenwart an ihrer Vergangenheit, aber die Protagonisten J. und P. sind nicht einfach einzelne Personen einer Geschichte, sondern sie stehen stellvertretend für zwei "Lebensantriebe". Mit ihnen treibt sie das "Was-bewegt-einen-so-zu-handeln-wie-er-handelt" auf die Spitze, geht gleichsam in die Vogelschauperspektive ohne den Boden der Wirklichkeit je zu verlassen. Der eine wandelt als sich selbst ausbeutender Sozialarbeiter auf den Pfaden Jesu, der andere, ältere hat vor lauter Idealismus, den Menschen konkret helfen zu wollen, auch vor dem Bau der Atombombe für Hiroshima nicht haltgemacht ...
    Ingeborg Drewitz, die auf dem Kirchentag 1985 in Düsseldorf Paulus in ein ganz neues Licht als leidenschaftlichen, keineswegs nur intellektuellen Verfechter des neuen Glaubens zu setzen vermochte, schreibt mir zu Jesus:
    "... er ist mehr IDEE als Mensch (...) so radikal kann kein Mensch leben, daran zerbricht jeder Nachfolger. Nur bleibt die radikale Forderung denn doch ..."
    Die beste Theorie nutzt nichts, wenn sie nicht in Taten sichtbar wird, schreibt sie nicht nur über und mit Gefangenen, sondern besucht sie, kümmert sich um sie. Keiner ist ihr offenbar zu gering, als daß er nicht ihrer Anteilnahme sicher sein kann.
    Ich hätte sie gerne mal zum Kaffee eingeladen und sie gefragt, warum sich bei ihr stets so ein melancholischer Grundton fand, warum sie sich trotz ihres Erfolges so ohnmächtig vorkam, hätte ihr auch sagen wollen, wie nah es mir geht, daß sie trotz doppelten Alters nie aufgegeben hat, nachzudenken und nach vorn zu schauen. Aber ich traute mich nicht, aus Respekt vor ihrem übervollen Terminkalender und weil sie vielleicht dennoch etwas Zeit für mich herausgeschunden hätte.
    Der Tod mit 63 Jahren als Quittung für ein ausgefülltes oder für ein überfordertes Leben? Müßige Frage - am 26. November 1986 ist Ingeborg Drewitz gestorben, und mein Denken an und Trauern um sie wird sich ganz bestimmt nicht allein auf dieses Datum beschränken."

    Ulrich Karger




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