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Textenetz | Nachruf (2): Rückblick auf Kemal Kurt (1947 -2002)


Ein Nachruf von Ulrich Karger anläßlich des Todes von Kemal Kurt im Jahr 2002.

Erstveröffentlichung: www.literatour.lu / Februar 2003,
die Internetausgabe der Print-Beilage vom Luxemburger Tageblatt sowie des "jeudi",
zudem enthalten in dem von Ulrich Karger herausgegebenen TB + E-Book:
Briefe von Kemal Kurt (1947-2002) - mit Kommentaren, Nachrufen und Rezensionen, Edition Gegenwind 2013

Homepage-Archiv von Kemal Kurt:
www.kemalkurt.de

In der Büchernachlese besprochene Titel von Kemal Kurt:
  • Die Sonnentrinker
  • Die verpatzten Zaubersprüche
  • Eine echt verrückte Nacht
  • Cora die Korsarin
  • Ja, sagt Molly
  • Die fünf Finger und der Mond
  • Die Kinder vom Mondhügel
  • Sieben Zimmer voller Wunder
  • Wenn der Meddah kommt



  • Er war ein Verständiger, das Schreiben für Kinder und Erwachsene nur eine Facette eines aktiv gelebten Integrationswillens, der ihn in drei Sprachen ein kreatives Gleichzeitigsein ausleben und als zugewandter Gastgeber zahllose Freundschaften pflegen ließ.
    Am 29.10.1947 im türkischen Çorlu geboren, lebte Kemal Kurt seit 1975 in Berlin, schlug dort Wurzeln, wurde in diesem Schmelztiegel aus gebürtigen Nicht-Berlinern zur einerseits typischen andererseits ganz besonderen Berliner Pflanze.
    Studien in der Türkei, den USA und an der Berliner TU mündeten 1983 in einer Promotion der Physikalischen Ingenieurwissenschaften. Sein künstlerisches "Coming-out" hatte er 1977 mit der Photographie, und er fand bereits wenig später bei internationalen Ausstellungen Anerkennung. Alsbald stellte er den Bildern auch Gedichte gegenüber, eröffnete so gleich mehrfach doppelbödige Spannungsebenen. Seine erste Buchveröffentlichung "... weil wir Türken sind /... Türk oldugumuz için" (1981) spiegelt diesen Spannungsreichtum nicht nur in Wort und Bild, sondern zudem zweisprachig in türkisch und deutsch. Sein letztes Buch dieser Art erschien 1999 unter dem Titel "menschen. orte" und diente wiederum als Katalog für viel beachtete Ausstellungen und Lesungen daraus. Am Ende umfasst sein Photo-Archiv 20000 Bilder.
    Herzstück seines Schaffens wurde jedoch das Schreiben, seit 1990 hauptberuflich als "freier" Schriftsteller, und hierbei nicht zuletzt das Erzählen für Kinder. Zunächst vor allem im Rundfunk, insbesondere für die von mehreren ARD-Sendern gleichzeitig übertragene "Ohrenbär"-Reihe des SFB. 1995 erschien schließlich unter dem Titel "Wenn der Meddah kommt" sein erstes Kinderbuch, das auch gleich mit der Einreihung in die Frühjahrs-Bestenliste dreier Rundfunksender gewürdigt wurde. Es folgten zehn weitere, oftmals in mehrere Sprachen übersetzt, die allesamt von der Kritik sehr gut aufgenommen wurden, eines davon ausgezeichnet durch die Akademie Volkach als "Bilderbuch des Monats Dezember 1997". 2002 legte er noch "Die verpatzten Zaubersprüche" vor, eine Erzählung mit viel Sprachwitz für Leseanfänger sowie den Jugendroman "Die Sonnentrinker", dessen augenzwinkernd über den Tellerrand schauender, unaufdringlicher Weisheit selbst hartgesottene Berliner Jugendliche erliegen werden - egal woher ihre Eltern sind. Dazwischen immer wieder authentischer Märchenerzähler, extremer Lesereisender u. a. in Südafrika und in den USA, mehrfach ausgezeichneter Stipendiat, Drehbuchautor für das ZDF, Übersetzer u. a. von "Regenbogenfisch"- und "Kleiner Eisbär"-Bilderbüchern ins Türkische sowie der "Elternbriefe" für türkischsprachige Eltern von schulpflichtigen Kindern in Berlin ...
    Für Erwachsene verfasste er Lyrik, Essays, satirische Kurzprosa und Romane. Hervorzuheben sind hier "Was ist die Mehrzahl von Heimat?" (1995), eine pointierte Reflexion seines ambivalenten Verhältnisses zu türkischer Herkunft und deutscher Lebensart sowie sein Satire-Roman "Ja, sagt Molly" (1998), in dem er u. a. höchst fulminant mit dem gegenwärtigen Literaturbetrieb abrechnet. Doch die Fähigkeit zum "hohen Ton" lässt einen nur selten überleben, andererseits fallen im Feuilleton Kinder- und Jugendliteraturbesprechungen stets als Erstes dem Rotstift zum Opfer - deshalb hat Kemal Kurt große Hoffnungen auf einen kriminalhistorischen Roman gesetzt, den er dieses Jahr (2002) noch fertigstellen wollte. Durch die Krankheit geschwächt, reichte es nur noch für eine in Englisch konzipierte, fragmentarisch ausgearbeitete Rohfassung.
    In Deutsch zu schreiben, nannte Kemal Kurt eine Fronarbeit - doch von dieser Anstrengung merkt man seinen insgesamt 20 deutschsprachigen Büchern nichts an. Alle seine Geschichten, egal ob für Alt oder Jung, helfen sichtbehindernde Tellerränder einzudrücken. Fein ziseliert und ausdrucksstark, mit einem seine Herkunft nicht verleugnenden Witz, bereicherte er das Deutsche um eine anmutig singende Stimme. Sein Tod, wenige Tage vor seinem 55. Geburtstag am 21.10.2002, lässt nicht nur in Berlin viele Menschen traurig zurück.

    Ulrich Karger




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