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Textenetz | Reportage: Droht eine kulturelle Verödung ...


Droht eine kulturelle Verödung des Berliner Nordens?
Eine Zeitreise in sattsam altbekannte Nöte und provinzpolitische Possenreissereien
Reportage von Ulrich Karger.

Erstveröffentlichung: Die Tageszeitung (taz) 03.05.1986



Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe 'Berliner Rückblicke-Einblicke-Ausblicke' lud Heiko Roskamp, seines Zeichens Publizist und Historiker, am 23.4.86 zu dieser Umfrage ins Haus Wichern in der Waldenserstraße ein.
Auf der einen Seite saßen ca. 100 'Künstler/innen und Kulturschaffende des Bezirkes Tiergarten' und auf der anderen: Dr. Volker Hassemer, Kultursenator; Dieter Ernst, Stadtrat für Volksbildung im BA Tiergarten; Prof. Dr. Nils Diederich, MdB (SPD) und der Galerist Konrad Jule Hammer.
Für die einzig aufs Podium geladene, aber nicht erschienene Frau der AL* (Dr. Hildegard Schramm) sprang der Lokal-ALer Jan Hüttmann ein.
Heiko Roskamp moderierte und strukturierte diese Diskussion als "nicht direkt Betroffener" sehr "sachlich" und sehr "neutral". Da Herr Hassemer nur anderthalb Stunden anwesend sein konnte, durfte er sich als erster darüber verbreiten, daß von einer Verödung natürlich keine Rede sein könne. Im Gegenteil, er als Kultursenator habe doch schon recht erfolgreich bewiesen, daß er, neben den zentralen 'Kulturburgen', auch z.B. im Wedding einem dezentralen kulturellem Treffpunkt auf die Spur gekommen sei (Luisenbad). Und in Lübars, da hätte er ein Kulturprojekt unterstützt, daß ohne ihn so nicht existieren würde. Da sei er recht selbstbewußt.
Auch Stadtrat Ernst sieht keine Verödung. Er bezog sich nun immerhin schon auf den Bezirk Tiergarten. Es gäbe hier doch 11 Theater, 18 Musikstätten und 24 Ausstellungsräume. Der Kunstamtsleiter Corazolla (von den meisten der anwesenden Künstler/-innen zum ersten Mal leibhaftig gesehen) sieht ebenfalls keine Verödung, allerdings 87 Pfennig pro Kopf und Jahr (vgl. Steglitz ca. 3.30 DM) sei ein nur sehr kleiner Etat. Er sei da ganz allein mit nur 2 Verwaltungsangestellten, aber es sind doch einige hoffnungsvolle Projekte, die er mit Rat und Tat unterstützen könne. Hassemer forderte daraufhin folgerichtig mehr Geld für die Stadträte in den Bezirken bzw. für deren Etat. Er merke ja, daß hier eine Off-Lage im Entstehen sei und das sei doch höchst spannend. Zum Beispiel das Tempodrom sei doch eine 'Blume der Kultur'.
Ob die daraufhin laut gewordenen, kritischen Bemerkungen auf fruchtbaren Boden gefallen sind?
Da wurde erstmal festgestellt, daß Tiergarten sich in vier Teile gliedere:

1. Der Park d.h. der Tiergarten selbst.
2. Das Hansaviertel
3. Tiergarten-Süd mit Nationalgalerie, Philharmonie, der Blume Tempodrom, dem geplantem Museumskomplex am Reichstag bis hin zum 'Haus am Lützowplatz'.
4. Moabit: Der bevölkerungsdichteste Stadtteil Tiergartens, der vereinzelt (noch) Kiezgefühle weckt, aber ohne sinnvolle Unterstützung im kulturellem Bereich mehr und mehr auszutrocknen droht. (Es gibt z.B. in Moabit kein einziges Kino mehr, früher immerhin noch vier). Besagter Stadtteil feiert sein 125-jähriges Jubiläum, findet aber nicht die Kraft, seine Kulturschaffenden dieses Jubiläum feierlich würdigen zu lassen. Dabei hat die Kultur hierorts durchaus Tradition. In seinem Eingangsreferat zählte Roskamp eine beeindruckende Schar von zu Ruhm und Ehre gekommene Maler/innen und Schriftsteller/innen auf, die in Moabit einen Wirkungsplatz fanden. Auch jetzt sind hier noch viele 'kreative Elemente' angesiedelt.

Ein großer Teil der bildnerisch Kulturschaffenden' hat sich in der 'Interessengemeinschaft Kunst in Moabit e.V.' (=IKM) zusammengeschlossen. Letztes Jahr, organisierte diese Gemeinschaft aus eigener Kraft, getragen von den Ladengalerien Artificium, el und Kunstlicht die Moabiter Kunstwochen '85, an denen sich 58 Moabiter Künstler/innen beteiligt haben und in der Galerie 'Haus am Lützowplatz' ausgestellt wurden. Wohlgemerkt in der ersten Etage des Eigentümers Konrad Jule Hammer und nicht mit Rat und Tat unterstützt in den vom Kunstamt gemieteten Räumen desselben Hauses. Für '86 hatte der Kunstamtsleiter lediglich vage Versprechen geleistet, die von vorneherein nicht zu halten waren. Er zeigte sich denn auch herzlich beleidigt darüber, daß ihn dann keiner mehr um Unterstützung gefragt hätte. Außerdem solle die IKM doch nicht denken, sie sei der Nabel der Welt. Hassemer griff dies auf und meinte leutselig, daß man doch auch nicht immer gleich sichtbare Erfolge erwarten könne. Wichtig sei doch, überhaupt mal ins Gerede, pardon, ins Gespräch miteinander zu kommen.
Auch für '86 forderte die IKM weder Geld noch Personal, sondern schlicht und ergreifend Räumlichkeiten, in denen Veranstaltungen wie die Kunst-Wochen, aber auch Lesungen, Theateraufführungen und Konzerte in Moabit abgehalten werden können.
Im Gespräch waren: Ein Pumpwerk (... aber die Wasserwerker brauchen endlich eine eigene Sporthalle); die ehemalige Sudhausbrauerei (... der Löwe vom Bau, Herr Franke hat auf diesen Gebäudekomplex in der Stromstraße für weniger als 4 Millionen DM seine geschäftstüchtigen Pranken gelegt); das Ballhaus (... hier erwies sich ein Restaurationsbetrieb bedürftiger).
Jetzt ständen ja noch die Kampffmeyerischen Mühlen zur Disposition, aber wie von einem AL-Mitglied verlautet, sei hier schon ein Antrag auf Abriß gestellt. Dieser machte dann den Vorschlag doch zukünftig interdisziplinär über die einzelnen Ressorts wie Volksbildung und Bauwesen etc. hinweg zusammenzuarbeiten (ob die das nicht längst tun? d. Verf.).
Der rührige Senator Hassemer hörte auf dieser Veranstaltung übrigens zum ersten Mal von der IKM und den Kunstwochen (was die Aktivitäten des engagierten Stadtrates und des verzweifelten Kunstamtsleiters ins rechte Licht rückt), und er fand das auch sehr spannend. Er will sich jetzt auf jeden Fall darüber informieren. Nein, direkter Ansprechpartner könne er nicht sein, dafür sei der Stadtrat ja da, dem er hierin volles Vertrauen schenke ...
Der MdB Diederich beklagte die offensichtliche Phantasielosigkeit, und versuchte auch konkrete Vorschläge einzubringen, wie z.B. einen Antrag auf Lottoüberschüsse zu stellen oder nahm Vorschläge auf, wie z.B. leer- oder vor dem Abriß stehende Häuser kurzfristig für solche Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Beim Hinausgehen meinte allerdings auch er, daß da doch noch einige Schwellenängste zu überwinden wären, von wegen Instandbesetzungen etc. ...
Die IKM will sich auf keinen Fall entmutigen lassen, und fordert alle Künstler/innen, die in Moabit leben oder/und arbeiten, sich für die noch nicht vollends abgesagten Kunstwochen '86 bereitzuhalten. Wer Interesse hat, meldet sich bei Joachim Weidler, Galerie Artificium (..).
'In der letzten' Zeit wurde den Bürgern Berlins ja hinlänglich vorgemacht, daß in der Provinz alles möglich ist, warum dann nicht auch das Unmögliche ...

*(AL = Alternative Liste, Berliner Vorläuferpartei der Bündnisgrünen)

Ulrich Karger




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